GAIN Magazin

Selbstreferentialität und Grenzüberschreitung – Walk the Line

»Ich bin keine Killerin«, sprach sie und schoss. Im 2013er Reboot von Tomb Raider herrscht ein beinahe absurder Widerspruch zwischen der als verletzlich und quasi-pazifistisch dargestellten Hauptfigur und dem Gameplay, das auf reines Gemetzel zielt. Ähnlich geht es dem AAA-Titel Fallout 4. Und auch in vielen anderen Spielen überkommt uns ein bestimmtes Unbehagen, sind wir irritiert, weil es zu Konflikten zwischen Story und Gameplay kommt. Aber ist vielleicht genau diese Irritation wünschenswert? Sollten Spiele nicht viel öfter Grenzen überschreiten, mit dem Erwarteten brechen – ja, vor den Kopf stoßen?

Die ludonarrative Dissonanz

Oh Gott, Sie hat es wirklich getan! Der Hirsch liegt tot vor ihr. Zitternd, würgend und laut mit ihrem inneren moralischen Kompass ringend beginnt sie, den Kadaver aufzuschneiden. Die Szene ist mittlerweile legendär geworden. Im Reboot der Tomb-Raider-Serie von 2013 wird die taffe, mit allen Wassern gewaschene und einhändig-Uzi-schwingende Kampfamazone Lara Croft dekonstruiert und neu inszeniert: als junge, in behüteten Verhältnissen aufgewachsene Forscherin, die niemals damit gerechnet hätte, auf einen Hirsch schießen zu müssen – geschweige denn auf Menschen. Nur wenige Spielminuten später hat sich der anfängliche moralische Widerwille aber offensichtlich gelegt. Im weiteren Verlauf des Spiels schießt sich die Protagonistin durch unzählige Gegnerwellen, ohne auch nur ein weiteres Mal mit der Wimper zu zucken.

Die Story von der zartbesaiteten, pazifistischen Lara Croft steht im Widerspruch zur Spielmechanik des schonungslosen Death Count.
Die Story von der zartbesaiteten, pazifistischen Lara Croft steht im Widerspruch zur Spielmechanik des schonungslosen Death Count.

Dieser krude Widerspruch zwischen der in der Story als verletzlich und naiv konstruierten Hauptfigur und der tatsächlichen spielmechanischen Umsetzung – in Kurzform: Gegnerwellen umballern – irritiert. Diese Irritation hat einen Namen: Ludonarrative Dissonanz. Konfligieren ludische Elemente eines Spiels, d. h. die Spielmechanik mit den narrativen Elementen desselben Spiels, entsteht Disruption. Wir sind, einfach ausgedrückt, vor den Kopf gestoßen, haben das Gefühl, irgendetwas „läuft nicht rund“ im Spiel, irgendetwas bereitet uns Unbehagen. Im Allgemeinen gilt die ludonarrative Dissonanz als unerwünscht, zumindest aus der Warte der Spieleentwickler bzw. derer, die das Spiel letztlich auf den Markt bringen und gewinnbringend verkaufen wollen. Denn: Der ludonarrativen Dissonanz wird gemeinhin unterstellt, die Immersion, also das Eintauchen des Spielers in das Spiel, zu brechen. Denn ebendie Immersion ist zentral dafür, dass der „Flow“ entsteht, der uns als Spieler erst vor den Desktop fesselt. Das irritierende Element der ludonarrativen Dissonanz liegt in der Inkonsistenz zwischen Story und Gameplay. Das Spiel wird durch diesen internen Widerspruch quasi zum Verräter an seinen eigenen Überzeugungen.

Wenn sich das Spiel selbst widerspricht

Was heißt das? Zunächst müssen wir uns darüber klar werden, dass jede Spielmechanik ein geschlossenes normatives System konstruiert, innerhalb dessen wir uns als Spieler bewegen und das wir anerkennen müssen, um im Spiel weiterzukommen, ja, um das Spiel gewinnen zu können. Durch Belohnungs- und Bestrafungssysteme gibt uns das Spiel ja genau vor, welches Verhalten wünschenswert, also »gut« ist und welches Verhalten intolerabel, also »falsch« ist. Wenn es GAME OVER heißt, sobald wir einen Zivilisten erschießen oder einen Polizisten töten, dann erschafft das Spiel eindeutige moralische Systeme, die gelten. Wir können diese normativen Grenzen nicht überschreiten. Schlicht, weil es das Regelwerk nicht zulässt.

Im Falle der ludonarrativen Dissonanz öffnet sich hier aber ein internes Spannungsfeld. Denn: Das Spiel behauptet zwar (auf der narrativen Ebene), dass es diese und jene Überzeugungen hätte. Das faktisch herrschende Regelsystem steht dem aber gänzlich entgegen. Betrachten wir dazu noch einmal das Beispiel des Tomb Raider Reboots: Die Hauptfigur wird hier narrativ als verletzlich und moralisch integer dargestellt. Faktisch belohnt uns das Spiel aber für die Abschlachtung unzähliger Tiere und Menschen und macht diese für den Spielerfolg zwingend notwendig. Das Spiel widerspricht also gewissermaßen seinen eigenen Überzeugungen.

Ein anderes Spielebeispiel, das die ludonarrative Dissonanz in beinahe absurde Höhen gehoben hat: Fallout 4. Die Hauptquest und die ganze Story bestehen darin, dass wir unseren anfangs von mysteriös vermummten Gestalten entführten Sohn Shaun möglichst schnell wiederfinden wollen. Simpel genug. Soweit die Story. Und dann verlassen wir den Vault (den Luftschutzbunker, der uns die atomare Apokalypse überleben ließ) und machen … alles, nur nicht unseren Sohn suchen. Wir sammeln Loot, bauen ganze Dörfer und bevölkern diese, erledigen Nebenquest um Nebenquest. Bis wir uns irgendwann fragen: Wer war noch gleich dieser Shaun? Ludonarrative Dissonanz par excellence.

Mit Robotern plauschen, Siedlungen bauen und bevölkern, Loot sammeln und und und. Die eigentliche Hauptstory in Fallout 4 über den entführten Sohn geht in den Weiten des Gameplays und der Spielewelt völlig unter.

Chancen der ludonarrativen Dissonanz

Aber ist die durch die ludonarrative Dissonanz verursachte Disruption wirklich ein Mangel? Oder noch gewagter gefragt: Ist die Irritation vielleicht sogar wünschenswert? Brüche in der Konsistenz und damit mit dem Erwarteten und Erwartbaren, dem Gewohnten, haben großes Potential, uns Spieler aufzurütteln, uns zur Reflexion zu bewegen – über den Tellerrand des Spielkonsistenten hinaus. So könnte die Dissonanz etwa bewusst genutzt werden, um komplexe psychische Strukturen abzubilden.

Stellen wir uns ein Spiel vor, dass etwa die psychische Krankheit der Schizophrenie thematisieren möchte. Dies kann es über den konventionellen Weg tun, indem es eine Story und ein Gameplay entwirft, die konsistent miteinander sind und uns als Spieler durch eine lineare interaktive Geschichte führt. Oder aber es könnte die ludonarrative Dissonanz für sich nutzbar machen und uns die Irritation, das Disruptive, das Auffragmentierende der Krankheit unmittelbar spüren lassen. Der bewusste Bruch mit dem Erwarteten als solches ist nichts Neues. Wir kennen ihn aus Literatur, Film, bildender Kunst.

Denken wir nur an den Dadaismus oder das schwarze Quadarat von Malevich oder überhaupt jegliche Strömung und Gegenströmung im kulturellen Geschehen. Die ludonarrative Dissonanz besitzt in ihrer irritierenden Wirkung erhebliches Provokationspotential. Dieses kann genutzt werden, um den Spieler auf ganz neue Weise über das Spiel nachdenken – oder gar über das Spiel hinaus denken zu lassen.

Selbstreferentialität

Über das Spiel hinaus denken? Wie soll das gehen? The Stanley Parable macht es vor: Hier schlüpfen wir in die Rolle eines durchschnittlichen Büroangestellten in einem durchschnittlichen Bürokomplex, der allerdings eines Morgens nichts so vorfindet, wie er es kennt. Der Komplex ist verlassen und sogleich begibt er sich auf die Suche nach dem Grund für diesen seltsamen Zustand. Der Clou: Das Spielgeschehen wird begleitet von einer Stimme aus dem Off, einem Kommentator, der an die Rolle des Chores in Sophokles Antigone erinnert: Er spricht davon, was den Spieler erwartet, wie sich dieser verhalten wird.

Er erzählt die Geschichte dieses seltsamen Tages im Präteritum. Und wenn eine Geschichte in der Vergangenheitsform erzählt wird, dann ist – richtig! – davon auszugehen, dass die Geschichte vergangen ist. Die Erzählerstimme vermittelt also, dass die Ereignisse bereits abgeschlossen sind, die Geschichte quasi geschrieben ist. Aber, und genau hierin liegt die Genialität und das disruptive Potential des Spiels, dem ist keineswegs so.

The Stanley Parable irritiert durch den leitenden und zugleich nicht-leitenden Erzähler, durch die vermeintliche Möglichkeit der Freiheit, das Spiel zu durchbrechen und doch immer in ihm gefangen zu bleiben.

Gelangen wir an eine Kreuzung, berichtet uns der Erzähler davon, dass Stanley, unsere Spielfigur, an diesem Tag nach links ging. Wir aber – viva la revolución! – gehen nach rechts. Bald wird allerdings klar, dass hinter der vermeintlichen Willensfreiheit ein strenger Determinismus steht, der die erstere Lügen straft. Nichtsdestotrotz: The Stanley Parable hebt uns als Spieler durch den Widerspruch zwischen dem, was uns die Story – in diesem Fall der Erzähler – vorgibt und was spielemechanisch möglich ist, auf eine Metaebene: Wir spielen das Spiel ohne seinen Regeln gehorchen zu müssen (wobei der spielmechanische Scope natürlich auch hier rein rechnerisch nicht unbegrenzt sein kann). Das Spiel verweist quasi kritisch auf sich selbst. Wir können uns über das Spiel gewissermaßen hinwegsetzen – und positionieren uns als Spieler damit ganz neu zum Spiel und können anders über dieses nachdenken.

Grenzüberschreitung

Einen Schritt weiter geht das ursprünglich im Rahmen eines Game-Jam enstandene Indie-Spiel Pony Island, in dem der Teufel persönlich unseren Rechner mit einem Virus infiziert hat, der uns dazu zwingt, das von ihm entworfene gleichnamige Spiel zu testen. Das Spiel selbst ist konfus. In kruder Optik und mit verstörender 8-Bit-Musikuntermalung steuern wir ein pixeliges Pony durch einen Jump-&-Run-Parcour der dämonischen Art. Zunehmend muss sich das pixelige Pony mit Laserstrahlen angreifender Gegner erwehren, die sich mehr und mehr in Skriptfragmente auflösen. Je weiter das Spiel fortschreitet, desto konfuser wird es.

Die Steuerung funktioniert auf einmal nicht mehr so wie davor. Die Musik stagniert und fällt in entnervende Endlosschleifen. Im fortschreitenden Spielverlauf löst sich das Spielmenü selbst auf. Der Klick auf Optionen führt nicht länger zu ebendiesen, sondern zu einem überladenen Bildschirm voller Skriptchaos. EXIT und START reagieren schwerfälliger, dann nicht mehr. Oder anders als erwartet. Das Perfide und Geniale an Pony Island liegt eben in dieser radikal zu Ende gedachten Grenzüberschreitung. Mehr mit Erwartetem brechen, als das Spielmenü selbst – das traditionell stets außerhalb des Spiels steht – in Frage zu stellen, indem man es als Spielelement freigibt, geht kaum.

Pony Island ist Grenzüberschreitung pur.

Auch das Indie-Adventure Year Walk erweitert unser Spielverständnis, indem es irritiert. Das streng in 2D gehaltene Spiel beschreibt eine skandinavische Tradition, nach der sich der Year Walker um Neujahr herum auf eine Reise begibt, auf der er widernatürliche und überirdische Gestalten überwinden muss, damit er zu einer Kirche gelangt, die er eine bestimmte Anzahl oft umrunden muss, um daraufhin einen Blick in die Zukunft zu erhaschen. Eine spirituelle, transzendentale Erfahrung.

Schwierig, eine solche nachvollziehbar abzubilden im Rahmen eines zweidimensionalen Adventures! Deshalb entschließt sich das Spiel gegen Ende schlicht für eine komplette Ruptur. Die Essenz des Spiels, das wir bis zu diesem Zeitpunkt gespielt haben, wird zersetzt und geht in etwas völlig Anderem auf. Es wäre viel zu schade, vorwegzunehmen, wie Year Walk diese Grenzüberschreitung gelingt, deshalb bleibt es hier bei etwas vagen Formulierungen. Fest steht: Spiele wie Pony Island oder Year Walk positionieren uns als Spieler im Hinblick auf das Spiel komplett neu. Durch die Irritationen, Brüche und Inkonsistenzen, die so sträflich der allgemein gewünschten Immersion zuwiderlaufen, gewinnen wir ganz neue Perspektiven auf das Spiel und letztlich auf uns und unsere Rolle als Spieler.

Walk the Line

Vielleicht sind also die Immersion und der Flow gar nicht das Maß der Dinge. Vielleicht müssen Spiele keine »runde Sache« sein. Oder anders gesagt: Natürlich spielen wir gerne Spiele, die uns nicht überraschen, die uns nicht irritieren. Wir brauchen in einem klassischen Rollenspiel nicht immer das Grenzüberschreitende, das Disruptive. Manchmal wollen wir auch einfach Drachen. Und Schwerter. Und in einem Adventure wollen wir eben Rätsel. Keine übermäßigen Actioneinlagen. Oder dass sich das Spielmenü auflöst. Der Wendekreis des Tellerrandes ist nicht per se schlecht. Aber er bleibt eben stets innerhalb seiner begrenzten Möglichkeiten.

Um neue Wege und Perspektiven des Mediums Spiele freizulegen, ist es notwendig, über diesen Tellerrand hinauszublicken. Spiele dürfen und sollen sich weiterentwickeln, indem sie sich zugleich konstant in Frage stellen. Indem sie, wie durch die ludonarrative Dissonanz, Spannungen erzeugen und diese aushalten – oder auch nicht. Indem sie Grenzen überschreiten, ob in narrativer oder spielmechanischer Hinsicht. Indem sie die Rolle des Spielers neu reflektieren und damit ihre ganz eigene Rolle neu entwerfen. Natürlich ist dies eine Gratwanderung zwischen reiner Provokation und ehrlicher Reflexion und zwischen dem Selbstverständnis als Unterhaltungsmedium oder als Kunstform. Spiele sollten sich aber keinesfalls scheuen, das disruptive Potential, das sie gerade durch ihre Interaktivität besitzen, zu nutzen. Der Blick über den Tellerrand hat bekanntlich noch niemandem geschadet.

Dieser Artikel ist in Ausgabe #7 des GAIN Magazins erschienen.

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