GAIN Magazin

Mehr als nur Wahnsinn – Psychische Erkrankungen in Videospielen

Mit dem Erwachsenwerden des Videospiels als Medium, wächst auch seine Fähigkeit menschliche Probleme zu reflektieren. In vielen Spielen mit ausgeprägter Narration steuern und begegnen wir Charakteren, die eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Entwicklung durchmachen. Was dabei jedoch nur selten adäquat abgebildet wird, ist die Psyche im Allgemeinen und mögliche psychische Erkrankungen im Besonderen. »Hellblade: Senuas Sacrifice« ist wohl der bekannteste Versuch sich diesem Feld anzunähern, doch auch andere Spiele haben interessante Ansätze gefunden die menschliche Psyche zu thematisieren und damit das Potenzial offenbart, welches dieses Medium für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen besitzt.

Der wahnsinnige Antagonist

Nach Jahrhunderten der Fehldiagnosen und Fehlinterpretationen, verstehen wir die Gründe hinter Störungen und ihre Häufigkeit in modernen Gesellschaften immer besser. Auch wenn wir längst noch nicht alles nachvollziehen können, was in unserem Kopf vorgeht, so sind wir heute in der Lage Menschen nicht einfach als verrückt abzutun, wenn sie sich »verhaltensauffällig« zeigen. Eventuell stecken ernsthafte neurologische Erkrankungen oder traumatische Erlebnisse dahinter. Der Fortschritt, den es in der Wissenschaft im Verständnis psychischer Phänomene gibt, spiegelt sich jedoch keineswegs in populären Medien wieder. Gerade Spiele reproduzieren häufig einfach Stereotype und Stigmata.

Wenn eine Darstellung psychischer Probleme in Videospielen vorkommt, dann nimmt diese meist eine oberflächliche und eintönige Form an. Wer kennt nicht den typischen Antagonisten, der dem Wahnsinn verfallen ist und dessen einziger Grund für seine Bösartigkeit seine psychische Instabilität ist? Meist werden wir in die Rolle des rechtschaffenen und natürlich geistig völlig gesunden Helden versetzt, der diesen Antagonisten stoppen muss. Viele Autorinnen und Autoren innerhalb der Spieleindustrie verwenden »Irrsinn«, »Verrücktheit« oder »Wahnsinn« als Charaktereigenschaften eines Gegners. Sie sparen sich damit die Ausarbeitung vielschichtiger Persönlichkeiten.

Irrsinn ist ein dankbares Merkmal für einen Antagonisten, denn das Motiv des Bösen kann damit leicht erklärt werden. Wahnsinn und Bösartigkeit werden in Videospielen oft sehr eng miteinander verknüpft, obwohl es klar sein sollte, dass eine geistige Störung jemanden nicht automatisch zu schlechten Handlungen bewegt. Es besteht das Vorurteil, dass Menschen mit einer psychischen Störung keinerlei Kontrolle mehr über ihr Verhalten hätten. Doch diese oberflächliche Darstellung ist schlicht ein Stigma, welches durch so manches Videospiel gefördert wird. Eine geistige Störung ist in vielen Narrativen, die auf den Kampf Gut gegen Böse ausgelegt sind, ein billiges Werkzeug, um direkt und schnell zur Gewalt überzuleiten.

Eines der besten Beispiele dafür ist Vaas Montenegro aus »Far Cry 3«, ein gestörter und furchteinflößender Krimineller. Er ist deshalb ein hervorragendes Beispiel, weil er eigentlich für viele als großartiger Antagonist gilt, dessen Handlungen in eindrucksvoller Weise in Szene gesetzt sind. Nicht zuletzt trug dazu die exzellente Leistung von Michael Mando bei, der die Sprecherrolle für Vaas im englischen Original übernahm. Von anderen stereotypischen Bösewichten in Spielen unterscheidet sich Vaas jedoch nur durch diese gelungene Inszenierung, während seine Persönlichkeit simpel und berechenbar bleibt. Er ist ein Mann ohne Motivation, außer Schmerz um des Schmerzes Willen zu verursachen und hat keinen Charakter über diese Instabilität hinaus. In diesem Sinne ist er mangelhaft konzipiert.

Natürlich gibt es diesen »irrsinnigen Bösewicht« als typischen Antagonisten nicht nur in Videospielen. Auch Bücher und Filme sind voll davon. Doch das Videospiel scheint zumindest durch seine Möglichkeit eine aktive Rolle einzunehmen, eine interessante Möglichkeit zu bieten, sich in die Psyche eines anderen Menschen hineinzudenken. Sei es, weil wir durch die Handlungen eines anderen direkt als Spielerin oder Spieler betroffen sind oder weil wir selbst in die Rolle eines Charakters schlüpfen, der diese Probleme mit sich herumträgt.

Genau in diese Richtung geht »Hellblade: Senuas Sacrifice«. Die Hauptprotagonistin, die wir steuern, leidet unter einer schizoaffektiven Störung, nachdem sie miterleben musste, wie ihr eigener Stamm durch plündernde Wikinger ausgelöscht wurde. Wir erleben wie Senua sich ihre eigene Realität geschaffen hat. Häufige Merkmale einer solchen Störung sind paranoide Wahnvorstellungen, verstreute innere Zwiegespräche und verwirrte Gedanken, die uns das Spiel nachvollziehen lässt. Obwohl »Hellblade« im Kern ein fantasievolles Action-Spiel ist, strebt es Realismus in denjenigen Bereichen an, die entscheidend sind. Entwickler Ninja Theory (zuvor bekannt für »Devil May Cry« und »Enslaved«) arbeitete eng mit Paul Fletcher zusammen, Professor für Neurowissenschaft an der Universität Cambridge, um eine möglichst akkurate Darstellung der psychischen Erkrankung der Hauptprotagonistin zu ermöglichen.

Psyche als Teil der Spielmechanik

Neben der narrativen Ebene, existieren auch Versuche den psychischen Faktor stärker in die Spielmechanik einzubinden. »Darkest Dungeon« ist ein Side-Scroll-Rollenspiel, in dem wir eine Gruppe aus vier Heldinnen und Helden durch verschiedene Dungeons schicken. Gleichsam beinhaltet es einen faszinierenden Ansatz die Auswirkungen von Traumata auf die Psyche der Charaktere darzustellen. In anderen Rollenspielen schlachten wir uns durch Horden von Kreaturen, vergießen literweise Blut und verlieren hier und da einen Mitstreiter. Das alles wird meist kommentarlos hingenommen und hat keinerlei Einfluss auf unseren steuerbaren Charakter. Nicht so in »Darkest Dungeon«.

Darkets Dungeon fügt die Psyche in die Spielemechanik ein.

Die Höhlengewölbe sind grausam und der Weg durch sie kein Spaziergang. Dies versucht das Spiel in seinem Level- und Schadenssystem abzubilden. Jede Figur hat einen Stresswert, der je nachdem ansteigt, was sie im Dungeon erlebt. Haben die Heldinnen oder Helden zu viel Stress, erhalten sie bestimmte psychische Eigenschaften. Sie können beispielsweise paranoid, selbstsüchtig oder masochistisch werden und erhalten dauerhafte Ticks oder Marotten, die sich negativ oder positiv auswirken können.

Diese Statusanzeigen zu verwenden, ist ein einfacher, aber effektiver Weg, um zu zeigen, dass Stress etwas Normales ist, was uns alle beeinflusst. Man kann sich allerdings die Frage stellen, ob Stressanzeigen tatsächlich eine angemessene Repräsentation psychischer Probleme sind. Selbstverständlich vereinfachen Spiele, indem sie Balken oder Zahlenwerte einfügen, um Stärke, Gesundheit, Ausdauer oder letztlich die geistige Kondition eines Charakters abzubilden. Aber die Tatsache, dass ein solcher Faktor überhaupt mit einbezogen wird, hat allein schon einen anti-stigmatisierenden Effekt. Selbstverständlich mag es komisch klingen, wenn ich in einem Spiel einen Charakter zwischen zwei Missionen einfach »behandeln« kann, um seinen Stress zu mindern oder seine Marotten und Ticks zu entfernen.

Das wird dem Ernst von psychischen Problemen auf den ersten Blick nicht gerecht. Doch ähnlich verhält es sich bei schweren körperlichen Verletzungen, die man in Spielen für gewöhnlich durch einfache Heiltränke beheben kann. Dass es hier einen Mangel an Realismus gibt, ist nicht zu bestreiten. Was aber geschieht, wenn man psychische Krankheiten in diese Mechaniken einbaut, ist Folgendes: Sie stehen dann gleichberechtigt neben rein körperlichen Verletzungen. Sie werden ebenso ernst genommen wie ein Schnitt durch das Schwert. Das allein ist ein interessanter Kniff, um zu Bewusstsein zu führen, dass psychische Leiden nicht weniger problematisch sind als körperliche.

Entwickler verarbeiten ihre Erfahrungen

Dass Künstlerinnen und Künstler ihre eigenen Probleme mit ihren Werken verarbeiten, ist nichts Neues. Dostojewskij versuchte sich mit seinem Roman »Der Spieler« von seiner kaum zu kontrollierenden Sucht auf das Roulettespiel zu befreien. Auch in der Spielebranche nutzen Entwicklerinnen und Entwickler das Medium des Videospiels, um mit ihren psychischen Problemen umzugehen und sie für andere erfahrbar zu machen. Matt Gilgenbach von Infinitap Games verarbeitet in »Neverending Nightmares« seine Depressionen und Zwangsstörungen. Wir übernehmen darin die Rolle von Thomas, den wir durch seine scheinbar nicht enden wollenden Alpträume steuern. Im Stile eines Adventures bewegen wir uns zweidimensional von Raum zu Raum und dringen immer tiefer in ein Netz seelischer Grausamkeit ein. Es ist ein zutiefst persönliches und verstörendes Spiel, voller seltsamer Gestalten und Handlungen. Es ist ein Kampf gegen die inneren Dämonen.

Das spiel Lydia zeigt uns, wie die Psyche eines Menschen für ein leben gezeichnet werden kann.

Eine ähnlich verstörende Erfahrung bietet uns das Adventure »Lydia« vom finnischen Indie-Studio Platonic Partnership. Wir steuern darin das gleichnamige Mädchen durch verschiedene Phasen ihres Lebens und erfahren, welches Auswirkungen der Alkoholmissbrauch der Eltern auf sie hat. Die vier Entwickler von Platonic Partnership (Ein ausführliches Interview gibt es in Ausgabe #4) fassen in diesem Spiel ihre eigenen Lebenserfahrungen in einem zerrütteten Elternhaus zusammen. Sie zeigen auf eine imponierende und künstlerische Weise wie die Weichen im frühen Alter gestellt werden. Lydia ist ein dunkles Spiel voller Allegorien und Metaphern für das Kindheitstrauma. Hinter der Fassade von Monstern und sprechenden Teddys macht es uns fühlbar, wie die Psyche eines Menschen für ein Leben lang durch die Eltern geprägt wird.

Einen historischen Ansatz verfolgt das Spiel »The Town of Light«. Wir erkunden aus der Ego-Perspektive eine verlassene psychiatrische Anstalt und schlüpfen in die Rolle von Renee, die sich an die Geschehnisse erinnert, die ihr bei ihrer Einweisung in den 1930er Jahren wiederfuhren. Das Spiel wird teilweise als Horror-Spiel beworben, doch hier gibt es keine Jumpscares oder Zombies, sondern nur die nicht weniger furchterregende Realität. Wir werden in eine Zeit zurückversetzt, in der die Therapie psychischer Erkrankungen mehr mit Folter als mit Medizin zu tun hatte. Elektroschocks, Fesselungen und das Einsperren in verdunkelte Räume waren damals das tägliche Los eines jeden dort eingewiesenen. »The Town of Light« basiert auf wahren Ereignissen. Die Entwicklerinnen und Entwickler bemühten sich die tatsächliche Psychiatrie von Volterra in Italien nachzubauen, die für ihre hohe Todesrate bekannt war und erst im Jahr 1978 geschlossen wurde. »The Town of Light« ist brutal und ehrlich. Es vermittelt nicht nur einen Eindruck von psychischen Erkrankungen allein, sondern vor allem vom erschreckenden Umgang mit Menschen, die darunter leiden.

Town of Light

Mehr Mut in der Spielebranche ist wünschenswert

All diese Spiele sind keine leichte Kost. Dies ist sicher auch der Grund, weshalb man im AAA-Bereich kaum auf solche Thematiken trifft und dort eher die bekannten Stereotype bedient werden. Wahrscheinlich in dem Glauben, dass sich die Spielerinnen und Spieler für solche Dinge nicht interessieren würden. Der Erfolg des Indie-Titels »Hellblade«, der mit einer AAA-Produktion durchaus mithalten kann, zeigt jedoch, dass die Spielerschaft für solche Themen offen ist. Das Videospiel hat durch seine aktive Partizipation, die es von seinen Nutzerinnen und Nutzern verlangt, die besondere Möglichkeit psychische Probleme besser verständlich und erfahrbar zu machen oder sich mit Figuren zu identifizieren, wenn man selbst an einer Depression oder Ähnlichem leidet. Man kann sich nur wünschen, dass mehr Entwicklungsstudios den Mut haben, die Psyche von Charakteren in ihren Spielen intensiver zu behandeln und das Potenzial des Mediums an dieser Stelle ausschöpfen.

Dieser Artikel ist in Ausgabe #4 des GAIN Magazins erschienen.

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