Mit »Far Cry 6« versprach uns Ubisoft erstmals eine politische Revolution. Wie sich der neue Titel wirklich schlägt, reminisziert Arno in seinem kleinen Selbstbeobachtungsexperiment.
30 Minuten.
Tolle, künstlerische Intros liebe ich. Es gibt diese Seite, »The Art of the Title«, dort werden besonders kunstfertige Titelsequenzen besprochen und gewürdigt. Ubisofts »Far Cry 6« gehört meiner Meinung nach unbedingt dazu. Es führt ästhetisch und thematisch direkt ins Zentrum seiner Welt, einer Diktatur auf der fiktiven, kubanisch anmutenden Insel Yara. Hier ein Glas karibischen Rums, dort die Andeutung eines Oldtimers, Buena Vista Social Club-Feeling all included. Gleichzeitig wird so wenig verraten, dass man tatsächlich neugierig wird. Nach einer ersten Cutscene mit Diktator Antón Castillo (gespielt vom großartigen Giancarlo Esposito), in der der Anbau eines neuen Krebsmedikamentes als wichtigste Zukunftsbranche der Insel präsentiert wird (neiiiin, das spielt bestimmt keine Rolle mehr!), gibt es einen Schwenk zu einem leicht konspirativen Treffen auf einem Dach in einer kubanisch anmutenden Stadt.
Nach etwas Geplänkel darf ich mein Geschlecht auswählen und erfahre meinen Namen: Dani Rojas (heißt nicht auch das südamerikanische Fußballtalent in »Ted Lasso« so?! Fútbol is life!). Dann eskaliert die Situation auch schon. Panzer und Soldaten kreuzen auf, Soldaten erschießen sinnlos Zivilisten, ich muss mich davonschleichen. Mit einem Kutter schaffe ich es aufs Meer, doch der Diktator höchstpersönlich macht mir einen Strich durch die Rechnung. Der grausame Tyrann sucht seinen Sohn – und findet ihn just neben mir im Frachtraum. Er lässt diesen schließen und das Schiff versenken. Ich überlebe, werde an einen Strand angespült.
Die hier angeschwemmten Leichen lassen mich (sicher unintendiert) stocken, erinnern sie doch an Bilder, wie wir sie alle bereits von der humanitären Flüchtlingskatastrophe an den Mittelmeerküsten kennen. Dieser visuelle Schock ist es aber auch, was mich mit Spannung auf den weiteren Verlauf blicken lässt. Sollte das Spiel es schaffen, erzählerisch nicht nur eine klassische Mär der bösen, nicht-demokratischen Latino-Diktator zu spinnen, sondern wie hier auch das Leid der Menschen zu erzählen – ich wäre begeistert. Auf dem Weg dorthin werde ich – so viel »Far Cry«-Folklore muss sein – vermutlich noch etliche Landschaften erkunden, Waffen und Ressourcen sammeln und upgraden und Türme erklimmen. Ich kann es kaum erwarten.
Eine Woche.
Ich erwache. Tatsächlich habe ich eine Woche im ewigen Kreislauf der Quests verbracht, ohne viel um mich herum aufzuschnappen. Die alte Ubisoft-Formel – das Erkunden von Landschaften, das Einsammeln von Gegenständen, das Erobern von strategisch wichtigen gegnerischen Punkten – funktioniert für mich immer noch. Manch einer mag zu Recht meckern ob der fehlenden Originalität, aber sie hat mich viele Tage in einen tatsächlich befriedigenden Flow gebracht. Meine Sehnsucht nach Tiefe – völlig vergessen. Es macht einfach Spaß, mir diese Welt peu à peu eigen zu machen.
Einen großen Beitrag dazu leistet der launische, tolle Soundtrack, der alles zwischen Samba, Hip Hop und Metal vereint, solange es einen karibischen oder lateinamerikanischen Einschlag hat und zur Revolution aufruft oder die Liebe feiert/beklagt. Die Landschaften machen einen organischen Eindruck, die Levelstruktur der einzelnen Missionen wirkt aufgeräumt. Die Charaktere fühlen sich lebendig an. Nicht dokumentarisch-lebendig, eher glaubwürdig als Charaktere einer stereotyp verfassten Welt. Das Politische, dass dieses Mal vor Release eher großspurig angekündigt wurde, findet sich natürlich in den groben Pinselstrichen einer antifaschistischen Aufstands-Heldenreise, bei der offensichtlich nur ich die Guerilla zum Erfolg ballern kann. Was tatsächlich Spaß macht. Eine zynische Feststellung, die auch meine Heldin Dani an einem Punkt im Spiel trifft.
Aber oft sind es auch die leisen, kleineren Geschichten, die manchmal (zumindest zu meinem jetzigen Stand) nur angedeutet werden, die mich bewegen. Ein Brief von einem Fischer, der im Ausland sein Glück versucht. Ein Rapper, der als Trans-Mann in ein Umerziehungslager muss. Dennoch zieht vieles recht aerodynamisch an mir vorbei, im Gameplay als auch in der Erzählung hinterlässt dies weder im positiven noch im negativen tiefere Spuren. Denn es wartet ja die nächste Quest, der nächste Stützpunkt, mein nächster »Amigo«, einer der vielen tierischen Begleiter, die mich in den Kämpfen begleiten und mit besonderen Fähigkeiten unterstützen.
Drei Wochen.
Es ist aus. Das epische Finale war… etwas schlapp und einfallslos. Und dennoch merke ich gleich, die Liebe zu dieser Spielwelt ist zumindest bei mir auch eng mit Danis Geschichte verbunden, denn gleich nach dem Ende versuche ich noch weiter, die offenen Quests zu spielen. Doch das große Ziel, die politische Revolution, sie ist nun vorbei, nun geht es im Prinzip nur um Stabilisierung und Ausgleich mit den gleichen Mitteln wie vorher. Am Anfang des Spiels hieß es einmal sinngemäß, dass Dani abhängig vom Krieg von der Gewalt sei und nur dann wahrlich leben könne. Paradoxerweise stimmt diese Aussage genauso, wie sie auch falsch ist. Denn ich als Spieler benötige zwar in diesem Spiel die Ballerei, um voranzukommen. Diese Vorwärtsbewegung ist aber an die Sinnhaftigkeit meiner Aktionen gekoppelt. Ich brauche die Geschichte, um weitermachen zu wollen, sie rechtfertigt erst meine Handlungen der Gewalt. Erschöpft lege ich den Controller zur Seite.
Drei Monate.
Lange habe ich »Far Cry 6« nicht mehr gespielt. Dennoch geistert es mir mehr als andere Ubisoft-Titel auch drei Monate später noch im Kopf herum. Wegen »Far Cry 6« denke ich über die Natur von Politik und politischer Propaganda nach. Ist das Spiel, dessen Geschichte der Revolution, einfach nur plump oder ist es im Gegenteil ein sehr schlauer Kommentar zur Lektüre historischer Konflikte? Denn im Spiel selbst wird durchgehend die perfide Propagandamaschinerie des Diktators Castillo thematisiert und kritisch beobachtet. Zugleich aber spiele ich eine glattgebürstete Heldinnenbiografie, inklusive der Opfer und Strapazen, die ihr Kampf gegen die Ungerechtigkeit mit sich bringt.
Es handelt sich ebenfalls um eine einseitige, subjektive Propaganda, die plakativ den Gegner als das absolut Böse markiert, eine Propaganda, die nicht sonderlich tief geht, dafür aber geschickt mit Symbolen des Widerstands und Chiffren demokratischen Self-Empowerments hantiert. Die Seite, für die man kämpft, ist im Spiel auf einem Fundament aus sozialliberalen Grundwerten (Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit) aufgebaut. Ob diese Werte aber nach dem Fall des Regimes durch den quasi-militärischen Komplex, der selbst auf einer Historie von (und eben jener Sucht nach) Gewalt aufgebaut ist, umgesetzt werden kann, bleibt mehr als fraglich. In dieser Widersprüchlichkeit hat »Far Cry 6« schon mehr erreicht als manch anderer Titel. Allein der plakativen Politizität des Spiels gebührt also Respekt, eben weil diese politische Durchflechtung auch in ihrer Provokation der Plattheit zum Nachdenken anregt. Alleine deswegen werde ich »Far Cry 6« als einen der besseren Titel der Reihe in Erinnerung behalten.